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Gesundheitliche Bedeutung - Innenraum-Richtwerte

Bei der Aufnahme von Formaldehyd über die Atemluft stehen akute Wirkungen wie Geruchsbelästigungen und Reizerscheinungen im Vordergrund. Die Angaben zur Geruchsschwelle von Formaldehyd variieren stark. Die Weltgesundheitsorganisation nennt Werte von 0,03 (30 µg/m³), 0,18 (180 µg/m³) und 0,6 mg/m³ (600 µg/m³) als das 10., 50. und 90. Perzentil [1] der Geruchswahrnehmung von Formaldehyd [WHO 2000].

Angabe von Formaldehyd-Konzentrationen in der Raumluft

Formaldehyd-Emissionen aus Bauprodukten und die daraus resultierenden Immissionen im Innenraum werden üblicherweise in ppm, ppb, mg/m³ oder µg/m³ angegeben. Es gilt folgende Umrechnung (Annahme: ideales Gas):

– 0,1 ppm = 0,125 mg/m³ = 125 µg/m³

– 0,1 mg/m³ = 0,0815 ppm = 81,5 ppb

ppm = parts per million = Teile (Formaldehyd) auf eine Million Teile (Luft)

ppb = parts per billion = Teile (Formaldehyd) auf eine Milliarde Teile (Luft)

mg = Milligramm = tausendstel Gramm

µg = Mikrogramm = millionstel Gramm

Formaldehyd ist infolge seiner hautsensibilisierenden Wirkung bekanntermaßen ein Kontaktallergen. Dies betrifft hauptsächlich Kosmetika und Kleidung. Inwieweit der aus der Innenraumluft eingeatmete Formaldehyd Allergien hervorrufen kann, ist umstritten.

Formaldehyd wird nicht nur aus der Luft und ggf. über die Haut aufgenommen (exogene Aufnahme), sondern kommt als körpereigenes (endogenes) Stoffwechselprodukt in allen Geweben vor. Der Stoff entsteht bei der Dehydrogenierung von Methanol, bei der oxidati­ven Demethylierung, bei der Aminooxidation und bei der Peroxidation von ungesättigten Fettsäuren.

Beim Einatmen wird Formaldehyd durch die Schleimhäute schnell resorbiert und im Stoffwechsel über Formiat zu Kohlendioxid und Wasser oxidiert. Formaldehyd gelangt somit nicht in die inneren Organe und seine Wirkung beschränkt sich auf die direkt der Luft ausgesetzten Gewebe. Bei anhaltender Reizung können noch unspezifische Beschwerden wie Kopfschmerzen, Müdigkeit und Unwohlsein hinzukommen.

Je höher die Konzentration von Formaldehyd in der Atemluft ist, umso stärker werden die Beschwerden und es kann schließlich zu einer Schädigung der Schleimhaut im Nasen-Rachenraum kommen. Eine lang anhaltende hohe Belastung mit Formaldehyd kann zu einer chronischen Entzündung der Nasenschleimhaut führen, aus der sich Krebs entwickeln kann.

Die Diskussion um gesundheitliche Auswirkungen von Formaldehyd in Innenräumen nahm ihren Anfang in Köln, als sich im Sommer 1976 nach dem Bezug von neuen Schul­gebäuden die Klagen von Lehrern und Schülern über Augen- und Schleimhautreizungen häuften. Nach ausführlichen Untersuchungen wurden die Beschwerden auf eine Formal­dehyd-Belastung zurückgeführt. Die neu in die Gebäude eingebrachten Möbel und Deckenplatten aus Spanplatten emittierten den Stoff in hohem Maße und führten zu Raumluftkonzentrationen bis über 1 ppm, also oberhalb des damaligen Grenzwertes für Gefahrstoff-Arbeitsplätze. Als Reaktion auf die Gesundheitsbeschwerden wurde 1977 durch das damalige Bundesgesundheitsamt (BGA) zur Gefahrenabwehr ein Innenraum-Richtwert für Formaldehyd in Höhe von 0,1 ppm (125 µg/m³) festgelegt [BGA 1977]. Der Richtwert für die Innenraumluft wurde als 1/10 des seinerzeit gültigen MAK-Wertes für gezielte Tätigkeiten mit Formaldehyd in Höhe von 1 ml/m³ abgeleitet [BGA 12.10.1977].

In der EU ist Formaldehyd seit dem 1.1.2016 als nachweislich krebserzeugend (Carc. 1B) und mit Verdacht auf erbgutschädigende Wirkung (Muta. 2) eingestuft. Parallel zur Entscheidung der EU rückte die Ad-hoc-Arbeitsgruppe Innenraumrichtwerte IRK/AOLG (jetzt Ausschuss für Innenraumrichtwerte AIR) vom bestehenden Richtwert in Höhe von 125 µg/m³ mit dem Hinweis ab, dass neuere Studien den 2010 von der Weltgesundheits­organisation veröffentlichten Leitwert für Formaldehyd von 0,1 mg/m³ (100 µg/m³) unterstützen.

Im August 2016 wurde durch den AIR im Bundesgesundheitsblatt der neue Richtwert RW I (Vorsorgewert) für Formaldehyd in Höhe von 100 µg/m³ (0,1 mg/m³) veröffentlicht. Leider sah sich der AIR – im Unterschied zur Richtwert-Festlegung für eine Vielzahl anderer Stoffe – nicht in der Lage, zusätzlich zum RW I auch einen Richtwert RW II (Gefahrenwert) für Formaldehyd abzuleiten.

Für den Richtwert RW I wurde zudem folgender Hinweis gegeben: „Nach Auffassung des Ausschusses sollte eine Konzentration von 0,1 mg Formaldehyd/m³ Innenraumluft auch kurzzeitig, bezogen auf einen Messzeitraum von einer halben Stunde, nicht überschritten werden, da bei empfindlichen Personen oberhalb dieser Konzentration eine sensorische Reizwirkung auftreten könnte.“ Diese für einen Richtwert RW I ungewöhnliche Aussage wirft Fragen auf. Denn gemäß dem „Basisschema“ (das sind die durch den AIR aufgestellten Leitlinien zur Richtwert-Ableitung) gilt: „… im Konzentrationsbereich zwischen RW I und RW II (Anm. des Autors: also bei einer Überschreitung des Richtwertes RW I) sind zunächst keine baulichen oder sonstigen quellenbezogenen Veränderungen vorzunehmen … eine über einen längeren Zeitraum (> 12 Monate) erhöhte Belastung ist aus Gründen der Vorsorge nicht akzeptabel ...“ (Ad-hoc-AG IRK/AOLG, 2013). Diese Aussage steht nicht im Einklang mit dem Hinweis des AIR, dass bereits dann Handlungsbedarf besteht, wenn der Richtwert RW I für mehr als ½ Stunde überschritten wird. Daraus ergibt sich, dass der 2016 durch den AIR abgeleitete Richtwert RW I kein echter Vorsorgewert ist, sondern viel eher den Charakter eines Gefahrenwertes hat, so wie bereits der 1977 durch das BGA abgeleitete Richtwert.

Der AIR kam bei der Richtwert-Ableitung zu dem Ergebnis, dass auf den nach Basis­schema vorgesehenen Sicherheitsfaktor (genauer gesagt: Divisor) in Höhe von 2 zur „Berücksichtigung der besonderen Physiologie von Kindern“ bei der Richtwert-Ableitung für Formaldehyd verzichtet werden kann. Dies wird damit begründet, dass sich aus Expositionsmodellen des oberen Atemtraktes von Kindern und Erwachsenen „keine wesentlichen Unterschiede in der inhalativen lokalen Resorptionsrate von Formaldehyd bei Kindern im Vergleich zu Erwachsenen ergaben und auch ein Zusammenhang der Entstehung bzw. Verschlimmerung von Asthma bei Kindern bei einer Exposition gegenüber Formaldehyd in der Innenraumluft nicht belegt ist.“ Diese Begründung steht nicht im Einklang mit der Begründung des Extrapolationsfaktors von 2 im Basisschema, wonach „die Notwendigkeit dieses Faktors darin gesehen wird, dass Kinder im Vergleich zu Erwachsenen eine etwa doppelt so hohe Atemrate pro kg Körpergewicht aufweisen, Neugeborene eine bis 3fach höhere“ (Ad-hoc-AG IRK/AOLG, 2012).

Die nach dem Basisschema der Ad-hoc-AG IRK/AOLG (jetzt AIR) für Einzelstoffe abgeleiteten Richtwerte beinhalten grundsätzlich keine Aussage über mögliche Kombinationswirkungen verschiedener Substanzen (Ad-hoc-AG IRK/AOLG, 2007). Es ist jedoch seit längerem bekannt, dass Formaldehyd in seiner lokalen zytotoxischen und kanzerogenen Wirkung im oberen Atemtrakt sowie hinsichtlich der Fähigkeit, DNA-Proteinaddukte ausbilden zu können, Parallelen zum homologen Acetaldehyd weist aufweist. Hierzu führt die Ad-hoc-AG aus: „Bei einer Exposition im Gemisch mit anderen Stoffen, die in ähnlicher Weise wie Acetaldehyd eine lokal gewebs-schädigende Wirkung hervorrufen können, erscheint es sinnvoll, von einer additiven Wirkung auszugehen“ (Ad-hoc-AG IRK/AOLG, 2013). In der Praxis kommt es häufig zu einer gleichzeitigen Exposition (Koexposition) von Gebäude­nutzern mit Formaldehyd und Acetaldehyd. Wegen der additiven Wirkung der beiden eng verwandten Stoffe wäre es daher angebracht, zusätzlich einen Summen-Richtwert für Formaldehyd und Acetaldehyd festzulegen.

Vertiefend dazu siehe auch Unterkapitel "Wichtige Stationen des Erkenntnisprozesses zur Toxizität von Formal­dehyd sowie die Entscheidungen deutscher und internationaler Behörden zur tolerablen Innenraumluft-Konzentration von 1980 bis heute"

In der folgenden Tabelle sind ausgewählte toxikologisch abgeleitete Richtwerte für Form­aldehyd in der Innenraumluft zusammengestellt.

Tabelle 1: Richtwerte für Formaldehyd in der Innenraumluft (Auswahl)

Land / Institution

Richtwert

Deutschland

100 µg/m³ (RW I)

Hinweis des AIR: Der Richtwert soll nicht für einen längeren Zeitraum als ½ Std. überschritten werden.

0,082 ppm

Österreich 2)

Kurzzeit (30 Min.): 100 µg/m³

Langzeit (24 Std.): 60 µg/m³

0,082 ppm

0,05 ppm

 

Schweiz

125 µg/m³

0,1 ppm

Frankreich

Kurzzeit (2 Std.): 50 µg/m³

Langzeit: 10 µg/m³

0,04 ppm

0,008 ppm

 

WHO

Kurzzeit (30 Min.): 100 µg/m³

0,082 ppm

[1] Das Perzentil gibt rechnerisch den Punkt einer Messreihe an, der von einem bestimmten Prozentsatz der Messergebnisse nicht überschritten wird. Beispiel: Das 10. Perzentil ist der Wert, den 10 % der Messwerte unterschreiten (bzw. 90 % der Messwerte überschreiten).

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Auszug aus:
Formaldehyd - Eigenschaften, Verwendung, Regelungen, Sanierung -, Dr. Gerd Zwiener, Sachverständigen Büro Dr. Zwiener, erstellt im Auftrag der Bayerischen Architektenkammer, 2015

Inhaltsverzeichnis

Formaldehyd - Eigenschaften

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Gesundheitliche Bedeutung - Innenraum-Richtwerte

Welche Wirkung hat Formaldehyd und wie wird es aufgenommen? Welche Richtwerte gelten und wie werden sie angegeben?
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Erkenntnisprozess zur Toxizität von Formaldehyd - von 1980 bis heute
Darstellung wichtiger Stationen des Erkenntnisprozesses zur Toxizität von Formaldehyd sowie die Entscheidungen deutscher und internationaler Behörden zur tolerablen Innenraumluft-Konzentration. ... → mehr

Gefahrstoffrecht

Arbeitsplatz-Grenzwerte und Einstufung
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Verwendung - Quellen für Formaldehyd im Innenraum

Holzwerkstoffe

  • Leimarten und Formaldehyd-Abgabe
  • geschlitzte bzw. genutete Akustikplatten
  • Möbel
  • Formaldehydfänger
  • Formaldehydfreie Leime

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Weitere Quellen für Formaldehyd im Innenraum

  • Schaum-Dämmplatten, Ortschaum
  • Anstrichmittel auf wässriger Basis und säurehärtende Lacke (SH-Lacke)
  • Mineralwolle-Dämmstoffe
  • Klebstoffe
  • Glasfaser-Vliese
  • Betonzusatzmittel
  • Formaldehyd in naturbelassenem Holz?

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Regelungen zur Formaldehydabgabe von Holzwerkstoffen

  • Gesetzliche Regelungen zur Formaldehydabgabe von Holzwerkstoffen (Deutschland, EU)

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  • Das französische VOC-Label

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  • Freiwillige Vereinbarungen zur Formaldehydabgabe von Holzwerkstoffen – Label

Blauer Engel, Österreichisches Umweltzeichen, natureplus-Label, Goldenes M
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Belastung der Innenraumluft

Trends, Beispielmessungen, mögliche Ursachen und Abhängigkeiten
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Raumluftmessungen

Voraussetzungen und Durchführung
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Sanierung formaldehydbelasteter Innenräume

  • Entfernen der Emissionsquelle
  • Abdichten der Emissionsquelle
  • Chemische Bindung des Formaldehyds
  • Sanierung mit Zimmerpflanzen?

... → siehe oben

Literatur

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